Kirchgemeindenachrichten 1993

Bericht von Adam Graf Schall-Riaucour über

Beginn der Bodenreform und Verschleppung nach Rügen

Nach nur 13-tägiger Abwesenheit verbrachte ich vom 19. Mai 1945 ab den Sommer bei mir zu Hause in Gaußig 10 km südwestlich von Bautzen und es gelang trotz mannigfacher Schwierigkeiten, die Felder zu bestellen, in den Wäldern zu kultivieren und die Ernte einzubringen.
Etwa von Mitte Juli an begannen die ersten Anzeichen einer "Bodenreform" und schon damals wurden mehrere meiner Güter von den Russen an die betreffenden Gemeinden "verschenkt". Weder der neue wendische Landrat von Bautzen Dr. Ziesche; der einen lebhaften Verkehr mit Prag unterhielt und den Anschluß der Wendei an die Tschechei anstrebte, noch die Landesverwaltung in Dresden, die schon damals in der Hauptsache kommunistisch eingestellt war, zeigte das geringste Interesse, den Übergriffen der Gemeinden entgegenzutreten. Die Verordnungen und Verfügungen der sogenannten "Landesverwaltung", die meist vollkommen unklar waren, wider-sprachen sich in den wesentlichsten Punkten.
Wohl war immer von "Restgütern" die Rede, aber es war nie deutlich ersichtlich, ob man bei größeren Gütern 100 ha behalten sollte oder nichts.
So kämpften wir um diese Restgüter für unsere Kinder oder Enkel und ich verhandelte des öfteren in Dresden bei der Landesverwaltung mit meinem Nachbarn, dem Forstmeister Arnold Freiherrn v. Vietinghoff-Riesch, der vor allem die Stellung der Waldbesitze zu klären versuchte.
In den überwiegend meisten Gemeinden war alles ruhig und nur dort, wo ein besonders radikal eingestellter Kommunist neu als Bürgermeister eingesetzt worden war, ergaben sich Schwierigkeiten.

 

Am 19. Oktober nachmittags meldete sich bei mir der erst kürzlich nach Gaußig versetzte kommunistische Hauptwachtmeister und forderte mich auf, ihn sofort nach Bautzen zu begleiten, wo ich angeblich als Zeuge bei einer Vernehmung in Sachen meines seit einigen Wochen von den Russen eingesperrten Inspektors Berndt gebraucht würde. Da ich nicht den geringsten Zweifel an dieser sehr wahrscheinlichen Sache hegte, ließ ich mich unverzüglich vom Hauptwachtmeister auf seinem Motorrad nach Bautzen bringen. Auf dem dortigen Landratsamt eröffnete mir ein junger Leutnant der Landespolizei, er habe mich "auf Befehl des Landrats" für 4 Wochen in Haft zu halten!
Auf meinen sehr energischen Protest hin wurde mir zwar eine sofortige Vernehmung zugesagt, die natürlich nie erfolgt ist, aber ich wurde sogleich in das alte Stadtgefängnis an der Lauenstraße abgeführt und kam dort in "Einzelhaft", die allerdings darin bestand, daß die "Einzelzelle" bereits mit drei anderen Insassen belegt war!
Jeden Nachmittag durften wir im Gefängnishof "Spazierengehen", aber die Landwirte durften nicht miteinander reden; es war aber im ganzen Gefängnis kein einziger größerer Gutsbesitzer.
Am 23.10. kam nachmittags meine Schwiegertochter, geb. Freiin v. Boeselager mit meinem jüngsten Sohn zu mir, hatte sich Sprecherlaubnis erwirkt und durfte 3 Minuten vor Zeugen mit mir reden. Sie brachte mir ein Paar Jagdstiefel und einige Lebensmittel und eröffnete mir, "wir" kämen alle in nächster Zeit nach Mecklenburg und sie müsse auch mit ihren beiden Kindern im Alter von einem und zwei Jahren verreisen! Wer unter dem "wir" zu verstehen war, durfte sie mir nicht sagen und wir wurden sofort wieder getrennt.


Wie meine Schwiegertochter bei ihrer Rückkehr nach Gaußig erfuhr, war zur gleichen Stunde, da sie bei mir war, ein LKW mit Landespolizisten vorgefahren, um sie mit ihren Kindern und meinem Sohn abzuholen. Sie ist daraufhin am nächsten Morgen mit dem ersten Zug nach Dresden gefahren und hat sich mit den Kindern in der Nähe von Radebeul in einer kleinen Bauernwirtschaft versteckt gehalten bis zum 22. November, während mein Sohn schleunigst die russische Zone verließ und nach Westfalen und dem Rhein fuhr. Am 24.10. wurde ich mit einem LKW, auf dem zunächst nur meine Nachbarin Gräfin Wallwitz, geb. v. Carlowitz, aus Niedergurig saß, nach langen Kreuz- und Querfahrten, bei denen noch verschiedene Leute - meist mit ihren Familien - mitgenommen wurden, (es handelte sich in der Hauptsache um kleine Parteimitglieder und Handwerker) in das frühere Ostarbeitslager nach Radeberg gebracht, wo wir erst nach Einbruch der Dunkelheit ankamen. Dort traf ich meine sämtlichen Nachbarn mit ihren Familien und stellte fest, daß man weder Greisinnen von über 90 Jahren - Frau v. Wiedebach - Wohla - noch Mütter mit Säuglingen und Kriegsversehrte von der Verhaftung verschont hatte. Das Lager war verwanzt und verlaust, Stroh war kaum vorhanden und die Verpflegung vollkommen unzureichend; wir lagen wie die Heringe alle durcheinander auf Holzpritschen in fürchterlich engen Baracken.

 

Am 28.10. wurden wir in verschiedene Autobusse gestopft und in wirklich menschenunwürdiger Weise von den Landespolizisten beschimpft, bedroht und gestoßen in ein Lager nach Coswig transportiert, wo wir aber nur eine Nacht verblieben; die Verpflegung blieb am 28. vollkommen aus und nur am Mittag des 29. gab es eine dünne Kartoffelsuppe. Danach mußten wir in Reihen zu vieren antreten und wurden auf den Bahnhof geführt. Nach stundenlanger Warterei wurden wir endlich in Waggons eines Güterzuges eingesperrt, die keinerlei Licht oder Lüftungsmöglichkeiten boten. In jedem Wagen lagen 2 Garben Stroh; wir waren zunächst etwa 40 Personen in meinem Waggon und blieben von etwa 16 Uhr an auf einem toten Geleise stehen. Nach einigen Stunden wurde der Waggon auf unser verzweifeltes Klopfen von den Polizisten geöffnet, weil mehrere Insassen den Wunsch hatten, einmal auszutreten.
Wieder wurden wir in der gröblichsten Weise beschimpft. Gegen 23 Uhr wurde der Waggon plötzlich aufgerissen und nochmals ca. 15 Menschen hineingesteckt; kurz darauf ging die Reise los - das Ziel war unbekannt!
Am 30. früh stellten wir durch das sehr spärlich eindringende Licht fest, daß sich in unserem Waggon 38 Erwachsene und 14 Kinder unter 10 Jahren befanden. Die Fahrt ging über Riesa, Falkenberg, Jüterbog, Forst, Zinna.


Überall langer Aufenthalt; auf einer Station wurde uns ein Blecheimer zur allgemeinen Benutzung in den Waggon gegeben, aber die Türen wurden von da ab kaum mehr geöffnet und das Aussteigen verboten.
Am 31. bekamen wir zu 5 Mann die einzige Reiseverpflegung, bestehend in einem 1000 g großen Brot. Auf der ganzen Reise wurde für die Kinder 2 mal etwa 1 Liter Kaffee verabreicht. Wasser durfte wegen Typhusgefahr nicht getrunken werden. Auf fast jeder Station schossen die Polizisten zwischen die Räder und vor den Türen, um die Frauen zu ängstigen und als einzelne von dem 800 Mann starken Transport geflohen waren, drohten die Polizisten, im Wiederholungsfalle jeden zehnten Mann aus dem betreffenden Waggon zu erschießen.
Über Luckenwalde, Ludwigsfelde, Tempelhof erreichten wir am 1.11. Pankow Heinersdorf und kamen über Berlin-Karow gegen Abend nach Eberswalde.
Durch 30 Stunden hatten die Polizisten trotz unserer dringenden Bitten den Waggon nicht um einen einzigen Spalt geöffnet und hatten uns nicht gestattet den Eimer auszuleeren.
Am 2.11. erreichten wir über Pasewalk, Anklam und Greifswald gegen Mittag endlich Stralsund, aber unser Waggon wurde erst gegen 17 Uhr geöffnet.
Die Luft war fast unerträglich und der Durst quälte uns ganz besonders.
Wieder mußten wir in Reihen zu vieren antreten und nur diejenigen, die nicht marschieren konnten, durften beim Gepäck, das nicht getragen werden konnte, zurückbleiben; sie sollten mit Fahrzeugen nach Rügen befördert werden.

 

Das gesamte zurückgebliebene Gepäck wurde übrigens später von der Sächsischen Landespolizei im Verein mit Stralsunder Hafenarbeitern restlos ausgeplündert. Da ich persönlich nur einen Schlaf- und einen Rucksack mithatte, machte mir der lange Marsch über den Rügendamm keine sonderlichen Schwierigkeiten, aber vor dem Bahnhof Alten-Fähre mußten wir dann wieder über Stunden im Stockfinsteren bei starkem Sturm auf dem offenen Bahndamm sitzen, bis wir endlich um 20.30 Uhr wieder zu 38 Mann, aber ohne Stroh, in einen Güterwagen gesperrt wurden. Von irgendeiner Verpflegung war gar keine Rede und der Durst war fast unerträglich.
In der Nacht zum 3.11.45 mußten wir im Stockfinsteren auf dem Boden, oder auf unsern Rucksäcken sitzend, in dem sehr kalten Waggon die Zeit verbringen und da diesmal auch kein Eimer vorhanden war, war es besonders unangenehm, daß die Polizisten den Waggon erst um 8.30 Uhr zum Austreten öffneten. Gegen 10 Uhr kamen die alten und kranken Leute mit den Resten des Gepäcks an, die gestern nicht zu Fuß über den Rügendamm hatten gehen können, und wurden auch noch auf die verschiedenen Waggons verteilt. Endlich gegen 11 Uhr setzte sich der Zug in Bewegung; wir fuhren über Bergen und kamen um 14 Uhr am Bestimmungsort an: Lager Hamburg, Gemeinde Prora.
Es war dies das mittelste der drei Lager, die für die Arbeiter und Handwerker, die das K.d.F.-Strandband errichtet hatten, gebaut worden waren und lag unmittelbar hinter demselben, mitten im Walde.


Nachdem die Polizisten uns zum so und sooften Male gezählt und registriert hatten, überließen sie uns unserem Schicksal und fuhren mit demselben Zuge sofort zurück.
Die Steinbaracken waren zwar gut gebaut, aber die Russen hatten bereits die Heizungs-, Wasser- und Lichtleitung herausmontiert und da zunächst kein Stroh vorhanden war, mußten wir uns im Walde klatschnasses Farnkraut suchen, um nicht auf den blanken Dielen zu liegen.
Die "Gemeinschaftsküche" lag. ca. ein und einhalb km entfernt, aber sie war warm, ständig überfüllt und man bekam darin gegen Bons zweimal am Tage eine ganz dünne und ungesalzene Kartoffelsuppe und etwas Brot. Die Russen schienen keinerlei Interesse an uns zu haben, man konnte das Lager verlassen, wann und wie man wollte und der Bürgermeister von Prora erklärte uns, wenn er geahnt hätte, was unsere 40 Mann starke Begleitmannschaft für Verbrecher gewesen wären, hätte er sie sofort verhaften lassen! Im Lager war ich zusammen u.a. mit Gräfin Wallwitz-Niedergurig mit ihren 3 Töchtern, von denen die jüngste erst 8 Jahre alt war, mit Grafen Alexander Wallwitz, seiner Frau und 2 unerwachsenen Töchtern, mit dem Fürsten v. Schönburg-Waidenburg, mit Herrn und Frau v. Watzdorf-Luttowitz, mit Excellenz Frhrn. Hugo v. Fritzsch-Seherhausen, der bald darauf an Entkräftung starb und seinem Bruder Karlo, der sich nach dem Tode von Hugo erschoss, mit Herrn und Frau v. Arnim-Kriebstein, der nach wenigen Tagen in einem nahegelegenen Forsthaus, wohin wir ihn wegen seines Leidens gebracht hatten, starb, mit Herrn Sahrer v. Sahr-Ehrenberg mit seiner Schwester, die beide schwer leidend waren - und ebenfalls beide kurz darauf verschieden,

 

mit Herrn und Frau v. Lüttichau-Bärenstein und ihrem gelähmten Sohn, mit Grafen Alex. Rex-Zehista mit Familie, mit Frhrn. Richard v. Kap-Herr mit Familie, mit v. Bünau-Bischheim und von Wiedebach-Wohla, beide mit Familie und ungezählten anderen, zum Teil mit ganz kleinen Kindern. Am 6.11. mußten wir uns alle wieder auf dem Bürgermeisteramt von Prora melden, weil angeblich das Lager für einen neuen Transport geräumt werden sollte.
Ich erhielt einen Überweisungsschein nach Putbus, fuhr mit der Bahn nach Bergen und ging zu Fuß nach Putbus, wo mir der kommunistische Bürgermeister in den gröbsten Tönen erklärte, er wisse gar nicht, was dem Landrat einfiele, uns alle in seine Gemeinde zu überweisen, er habe weder Platz, noch Verpflegung für uns. u.s.w. Daraufhin machte ich mich "selbstständig " und ging weiter nach Neuendorf bei Lauterbach am Bodden, weil mir bekannt war, dass dort ein Herr v. Planen, der als Geschäftsführer der Veltheims "Inselverwiesen" war, ein Wochenendhaus besaß. Von der Betreuerin desselben noch in später Abendstunde rührend aufgenommen, freundete ich mich am nächsten Morgen mit ihrem im Nebenhaus wohnenden Vetter an, der Fischer war und ein eigenes Motorboot besaß. Nach langen Überredungskünsten gelang es mir endlich, ihm das Versprechen abzuringen, die zweifellos zu erwartende allgemeine Besoffenheit der Russen an großen Feiertagen am 9.11. auszunutzen und mich mit einigen Bekannten nach Stralsund zu bringen.


Am 9.11. gingen wir also - wie verabredet - mit den inzwischen von mir verständigten Bekannten, nämlich Gräfin Wallwitz mit ihren 3 Töchtern und Herrn v. Platen vor Tagesgrauen zum Hafen Lauterbach, versteckten uns im Motorboot und fuhren bei hellem Tageslicht nach Stralsund, wo wir gegen 14.30 Uhr im Hafen anlegten. Kein Russe war weit und breit zu sehen!
Wir pirschten uns vorsichtig aus den Hafenanlagen hinaus und gingen einzeln oder in kleinen Gruppen unauffällig zum Bahnhof. In der Nähe desselben blieben wir später in einem kleinen Hotel über Nacht und am 10.11. fuhr ich mit Gräfin Wallwitz und ihren Mädeln vormittags ab, in Richtung Berlin.
Wir kamen aber nur bis Demmin, wo wir von ein paar betrunkenen Russen aus dem Zug herausgeworfen wurden, sodass wir dort wieder übernachten mussten. Am 12.11. früh kamen wir dann endlich in Berlin an und ich blieb dort einige Tage.

 

Am 15. abends traf ich endlich wieder in Radebeul mit meiner Schwiegertochter zusammen, war in der Nacht vom 16. auf den 17. mit ihr heimlich in Gaußig, konnte noch mit unseren Leuten reden und ging am 17. früh, bevor es Tag wurde, zu Fuß die 23 km nach Räckelwitz, wo meine Frau damals schwer krank im Malteser-Krankenhaus lag.
Dort blieb ich einige Tage, musste aber leider meine Frau zurücklassen und fuhr nach Radebeul zurück. Am 22.11. startete ich mit meiner Schwiegertochter und ihren beiden kleinen Kindern per LKW und Güterzügen zur Fahrt an den Rhein, zu ihren Eltern. Wir waren glücklich, als wir endlich die Grenze der russischen Zone passiert hatten und langten am 25.11. früh nach mühevoller Reise unbehelligt in Köln-Mühlheim an.
Heimerzheim über Euskirchen 22a im April 1948